Sozial unsicheres Verhalten
- von Daniela Agricola, Rebecca Laux, Rene Frank und Alexandra Kirschbaum -
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1. Erscheinungsbild
1.1 Beschreibung der Erscheinungsformen
1.2 Definition
1.3 Angstkategorien
1.4 Häufigkeit der Störungen
2. Diagnostik
2.1.1 Multimodales und multimethodales Vorgehen
2.1.2 Befragung der Eltern
2.1.3 Befragung des Kindes
2.1.4 Verhaltensbeobachtung
2.2 Schlussfolgerungen
3. Ursachen
3.1 Biopsychosoziale Faktoren
3.1.1 Biologische Faktoren
3.1.2 Psychische Faktoren
3.1.3 Soziale Faktoren
3.2 Erlernte Hilflosigkeit
3.3 Sonntagskinder und deprivierte Kinder
3.3.1 Sonntagskinder
3.3.2 Deprivierte Kinder
4. Interventionsverfahren
4.1 Therapieziele
4.2 Theoretische Grundlagen des Trainings
4.3 Konzeption und Aufbau des Trainings
4.4 Beschreibung der Arbeitsweise
4.4.1 Einzeltraining
4.4.2 Gruppentraining
4.4.3 Elternberatung
4.4.4 Durchführung des Trainings
4.5 Überprüfung der Wirksamkeit/Verlaufskontrolle
5. Schlussbetrachtung
6. Anhang
6.1 Fallbeispiel aus dem Bereich „Sozial unsichere Kinder"
6.2 Tabellen
Quellenangaben
EINLEITUNG
Die hier vorliegende Hausarbeit beschäftigt sich mit einer erst in den 90-er Jahren kata-logisierten Verhaltensauffälligkeit die als „Soziale Unsicherheit" Eingang in die Literatur gefunden hat.
Aufgrund der starken Zurückgezogenheit der meisten Betroffenen, fällt sozial unsicheres Verhalten selten unangenehm auf. Deshalb werden in der Praxis die wenigsten Fälle psychologisch behandelt, da sozial unsicheres Verhalten nicht als behandlungsbedürftig wahrgenommen wird. Man könnte deshalb auch von einer „heimlichen Verhaltensstörung" (Petermann, U. 1994) sprechen.
Im folgenden werden Erscheinungsbild, Diagnose, Ursachen und Therapie der oben erwähnten Verhaltensstörung vorgestellt und anhand eines Fallbeispiels illustriert.
1. ERSCHEINUNGSBILD
Aggressive oder hyperaktive Personen (im Folgenden werde ich mich auf Kinder beziehen, da im Kindesalter am Frühsten auf Verhaltensauffälligkeiten eingegangen werden kann) lassen sich recht leicht aus einer Masse von Kindern heraussortieren, da ihr Verhalten offensichtlich ist und sie meist sofort auffallen. Wie aber schon in der Einleitung erwähnt, ist dies bei sozial unsicherem Verhalten nicht der Fall – oder wenn, dann selten – da sich unsicheres Verhalten durch sehr viele und unterschiedliche Erscheinungsbilder definieren lässt. Es kann also nicht immer mit Bestimmtheit gesagt werden, dass beim Auftreten einer bestimmten Auffälligkeit das Kind sofort als sozial unsicher zu kategorisieren ist.
Welche möglichen Erscheinungsformen bei einem Betroffenen vorkommen können, wird im nächsten Kapitel gezeigt.
1.1 Beschreibung der Erscheinungsformen
Soziale Unsicherheit hat viele Gesichter, von denen jedoch übermäßige Schüchternheit, Ängstlichkeit, Unsicherheit und Kontaktvermeidung am häufigsten vorkommen.
Das betroffene Kind ist still und in sich zurückgezogen, es erzählt nichts, fragt nichts und zeigt keine Freude. Sein Sprechen – der Schnittpunkt zur Außenwelt – ist entweder zu leise oder aber zu laut, besteht aus kurzen Sätzen oder knappen Antworten wie „Ja" und „Nein". Meist spricht das Kind undeutlich, zu schnell oder abgehackt.
Der Gesichtsausdruck ist steif und unsicher, es kommt zu verlegenem Lächeln und Gesichtszucken. Auch können die Hände zittern, das ganze Kind zappelt und kaut an Bleistiften und Fingernägeln oder seine Bewegungen sind langsam und eintönig.
Zu diesen körperlichen Anzeichen, die, wie ich noch einmal betonen muss keinesfalls alle gleichzeitig bei jedem Betroffenen vorhanden sind, kommen noch soziale Auffälligkeiten hinzu:
Das Kind wendet sich aus eigenem Antrieb keinem Spiel oder Beschäftigung zu, egal ob alleine oder mit mehreren, kommt sozialen Verpflichtungen in Schule und Familie nicht nach, wartet lange bis es eine Aktivität aufnimmt und resigniert oder wird wütend wenn es bei einem Spiel verliert oder eine soziale Aufgabe misslingt.
In fremder Umgebung kommt es vor, dass sich das Kind versteckt (z.B. unter einem Tisch) oder es will das heimische Haus erst gar nicht verlassen und sich auch nicht mit Freunden treffen. (vgl. Petermann, U. 1994 / Petermann&Petermann, 2000)
Viele dieser Verhaltensweisen sind typische Phänomene von Ängsten die in den Klassifikationssystemen DSM und ICD aufgenommen wurden.
1.2 Definition
Unter der Sammelbezeichnung „soziale Unsicherheit" werden Verhaltensweisen verstanden, die Aspekte von Trennungsangst, sozialer Ängstlichkeit (sozialer Phobie) sowie generalisierter Ängste beinhalten. (Petermann&Petermann, 2000, S. 5)
1.3 Angstkategorien
a) Trennungsangst :
- bei Trennung von wichtigen Bezugspersonen oder von Zuhause tritt großer Kummer auf
- Angst, der Bezugsperson könne etwas zustoßen
- Weigerung alleine zu schlafen
- Körperliche Beschwerden wie Kopf- und Bauchschmerzen, Übelkeit, Schwindel, Herzrasen
b) Soziale Ängstlichkeit/Phobie :
- Furcht vor fremden, unbekannten Personen (Verweigerung v. Kontakt)
- ist Kontaktvermeidung nicht möglich reagiert das Kind mit Schweigen, Zurück-weichen, Weinen, Erstarren oder Wutanfall
- Soziale Beziehungen und Aktivitäten sind eingeschränkt, viele Fertigkeiten werden nicht geübt
- Bewertungsangst (vor Leistung und durch andere): nicht Sprechen/Antworten
- Körperliche Beschwerden wie Erröten, Händezittern, Muskelverspannung, Magen-Darm-Probleme
c) Generalisierte Ängste :
- Ängste beziehen sich auf alltägliche Schwierigkeiten
- Angst die Anforderungen des Alltags nicht zu bewältigen
- Misserfolgserwartung
- Körperliche Beschwerden wie unruhiger Schlaf, Muskelverspannung, Reizbarkeit, Müdigkeit, Erschöpfung
1.4 Häufigkeit der Störungen
Wie schon erwähnt, treten diese oben genannten Störungen nicht bei allen Betroffenen auf oder nur einzelne Faktoren davon. Deshalb ergibt sich auch eine große Diskrepanz in der Evaluierung von sozial unsicherem Verhalten.
In einer Studie von Plück et. al (2000) gaben die Eltern von 1030 vier- zehnjährigen Kindern bei
5,4% bis 6% sozialen Rückzug,
5,2% der Mädchen und 3,6% der Jungen körperliche Beschwerden und
12,5% der Jungen und 8,6% der Mädchen Symptome auf der Skala ängstlich/depressiv an.
Emmelkamp und Scholing fertigten 1997 eine Studie an, die auf den oben erwähnten Ängsten beruhte und stellten fest, dass
3,9% eine Störung mit Trennungsangst
3,2% eine Störung für generalisierte Ängste und
1% eine Störung für soziale Phobien haben.
Die Auftretungswahrscheinlichkeit für generalisierte Ängste schwankt jedoch sehr stark, belegt durch aktuelle Studien, zwischen 0,4% und 3,7% (vgl. Petermann et al. 2000). Als Mittelwert wurde 1% angenommen.
Angststörungen treten meist mit anderen Störungen in Kombination auf (oft auch mit Hyperaktivität oder Aggressivem Verhalten).
In einer Jugendstudie in Bremen (Essau, Karpinski, Petermann und Konrad, 1998) wiesen von 1035 zwölf- bis siebzehnjährigen Schülern 192 Angststörungen auf, wobei bei
94 eine reine Angststörung, bei
70 eine weitere Angststörung diagnostiziert wurde.
23 hatten zwei und
5 drei weitere Störungen.
Sozial unsicheres Verhalten ist - wie diese Studien zeigen - also eine Addition von verschiedenen Verhaltensstörungen und schwer zu diagnostizieren.
2. DIAGNOSTIK
Dieses Kapitel beschäftigt sich mit den diagnostischen Möglichkeiten zur Erfassung sozial unsicheren Verhaltens. Die Diagnostik ist von herausragender Bedeutung, da sie über die Interventionsform entscheidet, die Therapieziele definiert, die Betroffenen zur Kooperation motiviert und die vorhandene von weiteren Störungen abgrenzt. Weiter kann man die Dia-gnose als Prozess, der wiederholt durchgeführt werden kann, bezeichnen. Es handelt sich also um ein geplantes Vorgehen, d.h. die Diagnose muss als aktiver Prozess betrachtet werden.
Zu den diagnostischen Verfahren gehören zum einen relativ unstrukturierte Gesprächsverfahren, zu denen die Anamnese ( Befragung der Eltern und des Kindes zu dessen Entwicklungsgeschichte) und die Exploration ( gezielte Befassung mit derzeitigen Krankheitserscheinungen, die dem "Untersucher" ein Bild von Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Denken, Aktivität, also der Art und Weise der psychischen Abläufe des Kindes vermittelt ) zählen. Allerdings sind diese beiden Methoden für die Erfassung der psychiatrischen Problematik von großer Bedeutung und 70 % aller Diagnosen können bereits aufgrund der Anamnese und der Exploration gestellt werden. Außerdem gibt es noch Checklisten - Verfahren, Test- und Fragebogenverfahren.
Speziell für Kinder mit ängstlichem oder sozial unsicherem Verhalten gibt es folgende diagnostische Verfahren:
2.1.1 Multimodales und multimethodales Vorgehen
Bei der multimodalen Diagnostik handelt es sich um eine Mehrebenendiagnostik psychischer Störungen, bei der sowohl die kognitive, emotionale und psychologische Ebene als auch die Verhaltensebene zu berücksichtigen sind. Die Verfahren, das sogenannte multimethodale Vorgehen, umfassen die Verhaltensbeobachtung, Testerhebung, Experten- und Bezugspersonenurteil, sowie die Selbsteinschätzung des betroffenen Kindes. Dieses Vorgehen erlaubt zwei "Klassifikationstypen" psychischer Störungen, zum einen die kategoriale und zum anderen die dimensionale Klassifikation. Die kategoriale Klassifikation grenzt psychische Störungen klar und eindeutig voneinander ab, während die dimensionale Klassifikation diese mit Hilfe von Merkmalen wie sozialem Rückzug oder Ängstlichkeit beschreibt.
Die psychischen Störungen beinhalten drei Gruppen:
- internalisierende Störungen ( Ängste, Depressionen, körperliche Beschwerden )
- externalisierende Störungen ( aggressives Verhalten )
- gemischte Störungen ( Einnässen, Zwänge, Einkoten, Sprachstörungen ).
2.1.2 Befragung der Eltern
Die Befragung der Eltern zwecks Informationsgewinnung bezüglich der Entwicklung des Kindes, der familiären Lebenssituation und des sozialen Umfeldes stellt die Hauptquelle der Verhaltensanalyse dar. Die Ziele dieses Verfahrens sind
a) die Beschreibung des Ist - Zustandes,
b) die Analyse der Entstehungsbedingungen und
c) das Kennenlernen der bisherigen Vorgehensweisen der Eltern.
Als Mittel dient der sogenannte Elternexplorationsbogen, der Fragen zur Entwicklung des Problemverhaltens und Fragen bezüglich der bedingenden und aufrechterhaltenden Faktoren in der Familie beinhaltet. Auf diese Weise sollen Verhaltensexzesse ( problematisches Verhalten wie Streitsucht oder Überempfindlichkeit), Verhaltensmängel ( nicht ausreichende Verhaltensweisen wie verminderte Kontaktbereitschaft oder Konzentrationsprobleme), und auch unproblematische Verhaltensweisen ( Stärken des Kindes), untersucht werden.
2.1.3. Befragung des Kindes
Der Befragung des Kindes liegen verschiedene Angsttests zugrunde.
a) Social Anxiety Scale for Children - Revised, Deutsche Version
Hierbei handelt es sich um einen Selbstbeurteilungsfragebogen, der die soziale Angst bei Kindern und Jugendlichen erfassen soll.
Zur sozialen Angst zählen
-- Angst vor negativer Bewertung
-- Vermeidung von sozialen Situationen
-- Angst vor neuen Situationen und unbekannten Personen.
b) Kinder - Angst - Test - 2 ( KAT - 2 )
Hierbei handelt es sich um einen Ängstlichkeitsfragebogen, der den Ängstlichkeitsgrad bestimmt und in bestimmte Angstzustände einordnet.
Die Angstzustandsskalen gliedern sich in zwei Formen. Zum einen gibt es die Form P, die konkrete, akute Erwartungsangst vor furchtbesetzten Ereignissen, und zum anderen gibt es die Form R, die tatsächlich erlebten Angstreaktionen nach konkreten Ereignissen und Situationen.
Die Testformen des Kinder - Angst - Test - 2 fragen nach:
-- den Sorgen und Ängsten ohne konkrete Inhalte
-- den konkreten Befürchtungen
-- Vergleichen zwischen Angstereignissen und tatsächlicher Angst
-- psychophysiologischen Begleitsymptomen von Angst und Sorgen
-- Verhaltensweisen, die auf Angst hinweisen.
c) Beck Angstinventar Deutsche Version ( BAI )
Dieses Testverfahren untersucht klinisch relevante Angst, genannt "soziale Unsicherheit". Das Kind soll die letzten sieben Tage zur Selbsteinschätzung nutzen und selbst den Grad der Angst einschätzen.
Dieser Test ist von Vorteil, da er die Vermischung der Symptome für soziale Unsicherheit und derer für Depressionen vermeidet.
d) Persönlichkeitsfragebogen für Kinder ( PFK 9 - 14 )
Der Persönlichkeitsfragebogen dient der Früherkennung von Verhaltensauffälligkeiten. Ziel hierbei ist es, sowohl die Persönlichkeit des Kindes für die individuelle Diagnostik als auch für die Angstatmosphäre in der Klasse zu erfassen. Die Einschätzung wird vorgenommen von Lehrern und Schülern und bezieht sich auf die Prüfungsangst, die allgemeine Angst, die Schulunlust und die soziale Unerwünschtheit.
e) Differentielles - Leistungsangst - Inventar ( DAI )
Dieses Testverfahren ist geeignet für Schüler der achten bis dreizehnten Klasse. Ziel ist es, die therapierelevante Leistungsängstlichkeit zu erfassen, indem verschiedene Phänomene der Leistungsangst, Formen der Angstbewältigung und angstauslösende und angststabilisierende Bedingungen festgestellt werden.
f) Bilder - Angst - Test für Bewegungssituationen ( BAT )
Dreizehn Bilder, die Sportsituationen darstellen, sollen die Angst vor körperlichen beziehungsweise sportlichen Aktivitäten erfassen und auch das Ausmaß des Selbstvertrauens, das Kinder in solchen Situationen in sich haben, feststellen.
Festzuhalten bleibt, dass neben der Testdiagnostik zur Erfassung des Problemverhaltens auch eine Intelligenzdiagnostik und eine Prüfung der Konzentrationsfähigkeit und der Aufmerksamkeitsfähigkeit nötig ist. Der Grund dafür ist, dass der Therapeut so den Schwierigkeitsgrad des Trainings den kognitiven Möglichkeiten des Kindes anpassen kann. Andernfalls könnte das Training das Kind vielleicht überfordern, was den Zweck desselbigen aufheben würde.
2.1.4. Verhaltensbeobachtung
Die Verhaltensbeobachtung erstreckt sich auf folgende Bereiche, und zwar auf die Beobachtung:
-- während der Untersuchungssituation ( z.B. Exploration )
-- der Interaktion mit den Eltern
-- in Leistungs- und Anforderungssituationen ( z.B. Durchführung psychologischer Tests )
-- des Verhaltens gegenüber Mitpatienten und dem Personal ( nur in Klinik möglich )
-- des schulischen Verhaltens beziehungsweise des Verhaltens in anderen Situationen ( nur in
Klinik möglich ).
Es gibt zwei Beobachtungstechniken, die bei der Verhaltensbeobachtung angewendet werden:
a) Gelegenheitsbeobachtung
( zufällig und nicht repräsentativ, trotzdem wichtige Informationsvermittlung )
b) systematische Beobachtung
( bestimmte Verhaltensweisen werden ausführlich und oft mit Zuhilfenahme
vorher entworfener Hilfsinstrumente (z.B. Merkmalskatalogen)beschrieben ).
Weiter sind bei einer verhaltensbezogenen Diagnostik folgende Vorannahmen zu treffen:
-- auf Alltagssituationen bezogener Kontext und soziales Bezugssystem, das heißt die
Kontextbedingungen sind bedeutend
-- konkrete Situationsbeobachtung ( künstliche Situation )
-- Einschätzung von Seiten der Eltern
-- Art, Intensität, Dauer und Auftretenshäufigkeit quantifizieren
-- Videodokumentation.
Es handelt sich im allgemeinen um eine weitgehend standardisierte Situation, die dem Kind Informationen bezüglich des Therapievorgehens vermittelt und bei der ein Kind - Therapeut - Vertrag geschlossen wird.
Das Treffen im Rahmen einer Elternberatung ( z.B. Hausbesuch ) ist eine teilweise standardisierte Situation.
2.2. Schlussfolgerungen
Man kann sagen, dass die Klassifikation und Psychodiagnostik psychischer Störungen in den letzten Jahren bedeutsam weiterentwickelt worden ist. Folgende Entwicklungen haben dazu beigetragen:
-- die Vereinheitlichung der diagnostischen Kategoriensysteme auf empirischer Grundlage
-- die Durchführung multizentrischer Studien über Länder- und kulturelle Grenzen hinweg
-- die Aufgabe von Konzepten und diagnostischen Instrumenten, die stark subjektiv orientiert
waren und empirisch nicht verifiziert werden konnten.
Trotzdem bleibt die Diagnostik sowohl am Verhalten als auch am Erleben orientiert und kann auch nicht auf subjektive Dimensionen verzichten.
Für die künftige Weiterentwicklung der Psychodiagnostik sind folgende Punkte wichtig:
-- stärkere Einbeziehung der Entwicklungsperspektive
-- stärkere Berücksichtigung des Beziehungsaspektes
-- Weiterentwicklung der mehr statischen Psychodiagnostik in Richtung eines dynamischen Testens
3. URSACHEN
Im Folgenden sollen verschiedene Erklärungsmöglichkeiten für soziale Unsicherheit dargestellt werden. Hierbei wird auf den neueren Forschungsstand Bezug genommen.
Wir werden zunächst näher auf biologische, psychische und soziale Faktoren eingehen, dann die Theorie der erlernten Hilflosigkeit genauer vorstellen und daraufhin die Einteilung sozial unsicherer Kinder in Sonntagskinder und deprivierte Kinder näher erläutern.
3.1 Biopsychosoziale Faktoren
Mögliche Ursachen für eine soziale Phobie wurden von Beidel und Turner in ihrem Werk „Shy children, phobic adults" (Washington, 1998) vorgestellt. Es handelt sich um biologische, soziale und psychische Faktoren, wobei die sozialen und psychischen Faktoren einen größeren Anteil haben als die biologischen Faktoren.
Im Folgenden soll auf einzelne mögliche biopsychosoziale Faktoren eingegangen werden.
Zu beachten ist, dass die Faktoren in verschiedenen Kombinationen auftreten können und dass sie als „multikausales Entwicklungsmodell" (Petermann, 2000, S. 53) zu verstehen sind.
3.1.1. Biologische Faktoren
Aufschluss darüber, dass biologische Faktoren eine mögliche Ursache für soziale Phobien sind, erhielt man durch Zwillingsstudien und weil man feststellte, dass in manchen Familien Angststörungen gehäuft auftreten.
In der Virginia-Twin-Study, die von Topolski und anderen durchgeführt wurde, fand man heraus, dass genetische Aspekte bei Trennungsangst scheinbar keine Rolle spielen, bei Überängstlichkeit jedoch haben genetische Faktoren einen Anteil an der Störung.
Petermann & Petermann geben an, dass die Erblichkeit auf 37 % geschätzt wird, ohne diese Zahl jedoch näher zu erläutern. (Petermann, 2000, S.54)
Verhaltenshemmung als stabiles Temperamentsmerkmal wurde hauptsächlich in Arbeitsgruppen um Jerome Kagan untersucht. Es wurde herausgefunden, dass gehemmtes Verhalten und Schüchternheit ab dem neunten Lebensmonat zu beobachten sind. Die Verhaltenshemmung tritt, wie Längsschnittstudien belegen, immer wieder auf und kann zu einem „erhöhten Auftreten von Trennungsangst führen". (Petermann, 2000, S.54)
In einer Längsschnittstudie von Gest konnte die Auswirkung der Verhaltenshemmung auf junge Erwachsene zwischen 17 und 24 Jahren herausgefunden werden. Sie zeigten zum Beispiel ein weniger aktives Sozialverhalten und verließen das Elternhaus später.
3.1.2. Psychische Faktoren
Es ist möglich, das ängstliche Verhalten eines Kindes als Nachahmung des Verhaltens einer Bezugsperson zu sehen.
Ebenso wird davon ausgegangen, dass soziale Unsicherheit auf einen Mangel an Gelegenheit zum sozialen Lernen zurückzuführen ist. Nimmt man Kindern ihre Probleme ab und verwöhnt sie zu sehr, lernen sie nicht, ihre Probleme selbstständig zu lösen. Diese Kinder werden als Sonntagskinder bezeichnet. (Siehe Punkt 3.3.1)
Verschiedene Konditionierungsprozesse können ebenfalls Ursache für soziale Unsicherheit sein (vgl. Petermann,2000, S. 55).
Francis (1992) fand heraus, dass ein Mangel an positiver Verstärkung sozial unsicheres Verhalten begünstigt. Bemühungen um sozial kompetentes Verhalten würden oft nicht genügend anerkannt.
Auch Verstärkerentzug und Bestrafung können sozial unsicheres Verhalten hervorrufen. Krohne (1996) fand heraus, dass Kinder, die merken, dass zum Beispiel die Mutter eifersüchtig reagiert, wenn sie mit anderen Kinder spielen, als Folge versuchen werden, diese unangenehme Situation zu vermeiden, die sie als bestrafend empfinden, indem sie nicht mehr mit den anderen Kindern spielen, was wiederum bedeutet, dass ihnen „befriedigende Sozialkontakte" (Petermann, 2000, S. 56) versagt bleiben.
Zahlreiche Untersuchungen jüngeren Datums, zum Beispiel von Mellings & Alden (2000) und Stopper & Clark (2000), beschäftigen sich mit den wichtigsten kognitiven Auffälligkeiten, die sozial unsichere Kinder zeigen. Hierzu gehört, dass ängstliche Menschen soziale Informationen eher als bedrohlich wahrnehmen und sich eher an negative Ereignisse als an positive erinnern.
Elting & Hoppe (1995) sowie Seligman (1995) fanden heraus, dass die Wahrnehmung von „Selbstwirksamkeitserlebnissen" und „Kontrollmöglichkeiten" (Petermann, 2000, S.56) bei sozial unsicheren Kindern eingeschränkt ist. Dies verstärke das passive Verhalten der Kinder, verhindere den Aufbau von Selbstvertrauen.
Häufig ist es so, dass die Kinder ihre negativen sozialen Erfahrungen auf sich selbst zurückführen, also sich selbst für unfähig halten (Albano et al., 1995).
Albano et al., 1995, fanden auch heraus, dass Kinder mit Ängsten oft annehmen, dass sie von anderen Kindern abgelehnt werden. Sie gehen auch davon aus, dass sie ihnen gestellte Aufgaben nicht gut bewältigen können.
Ein weiterer psychischer Faktor, der jedoch nur bei Kindern mit Trennungsangst nachgewiesen werden konnte, ist ein hohes Ausmaß an sorgenvollen Gedanken (Perrin & Last 1997).
3.1.3 Soziale Faktoren
Franz Petermann (1994) nannte als eine Ursache für soziale Unsicherheit von Schülern die mangelnde soziale Überschaubarkeit in Schule und Elternhaus. Ein "sozialer Rückzug" (Petermann ,1994 ,S.23) könne folgende Gründe haben:
- Wechsel von Bezugspersonen (z.B. Klassenlehrer)
- zu große Schulgebäude
- Schüler, die sozial unsichere Mitschüler bedrohen (Hänseleien oder körperliche Gewalt)
- Trennungserlebnisse (z.B. Scheidung)
- fehlende soziale Regeln und Rituale
- übermäßiges Verwöhnen, Eltern, die alle Hindernisse aus dem Weg räumen
- inkonsequente Erziehung (siehe auch Punkt 3.2)
In dem Buch „Training mit sozial unsicheren Kindern" (Petermann, 2000) werden andere soziale Faktoren angeführt, die in neueren Studien untersucht wurden.
So fanden Bornstein et al. im Jahre 1996 heraus, dass die psychische Gesundheit der Mutter eine entscheidende Rolle spielt. Eine psychisch gesunde Mutter, die sich als erziehende Instanz kompetent erlebt, sei eine Art Schutz für die sozial kompetente Entwicklung des Kindes.
In einer Studie von Melfsen (2000) wurde festgestellt, dass sich Mütter von sozial unsicheren Kindern selbst als „überdurchschnittlich ängstlich" (Petermann, 2000, S.57) einschätzen. Petermann & Petermann gehen davon aus, dass die elterliche Vorbildwirkung ein entscheidender Faktor für die Entwicklung des Kindes ist.
Von Siqueland und anderen wurde 1996 festgestellt, dass das Temperament des Kindes (biologischer Faktor, siehe oben) und das Erziehungsverhalten der Eltern von einander abhängen. Die Erziehung sei vom Temperament abhängig und es käme zu einer Wechselwirkung zwischen den beiden Faktoren, die als eine zentrale Ursache für soziale Unsicherheit bezeichnet werden kann (vgl. Petermann, 2000, S.58).
Inwieweit die soziale Herkunft des Kindes eine Rolle spielt, ist zur Zeit noch nicht einheitlich geklärt.
Auch inwiefern kritische Lebensereignisse (wie eine Scheidung) eine Ursache für soziale Unsicherheit sind, ist strittig. Dies widerspricht den von Petermann 1994 genannten Ursachen jedoch nicht unbedingt (siehe auch Punkt 3.2).
Generell lässt sich sagen, dass eine Erziehung durch ängstliche Eltern die Kinder sehr stark einschränkt. Kinder lernen durch überfürsorgliche und behütete Erziehung schlechter, wie sie sich im Umgang mit anderen verhalten sollen.
3.2 Erlernte Hilflosigkeit
Die Theorie der erlernten Hilflosigkeit geht davon aus, dass Menschen, die wiederholt mit unkontrollierbaren Ereignissen konfrontiert werden, hilflos werden. Unkontrollierbarkeit wird von Peterson, Maier und Seligman (1993, S.8) als „a random relationship between an individual´s action and outcomes" definiert. Das bedeutet, dass es gleich ist, ob das Individuum etwas tut oder nicht, die Konsequenz tritt ohnehin ein. Diese Konsequenz wird als reaktionsunabhängig ( vgl. Petermann, 2000, S.58) bezeichnet. (Siehe auch Kapitel 4.2)
Sozial unsicheres Verhalten kann anhand der Theorie der erlernten Hilflosigkeit insofern erklärt werden, als das „Erziehungsverhalten der Eltern unkontrollierbar und unvorhersagbar" (Petermann, 2000, S.61) sein kann. Möglich ist auch, dass zum Beispiel der Tod eines Familienmitglieds das Kind stark schockt und das Kind, das gelernt hat, dass Konsequenzen nicht kontrollierbar sind, nicht mehr bereit ist, selbst zu handeln.
Beobachten kann man die erlernte Hilflosigkeit bei sozial unsicheren Kindern häufig im Umgang mit Gleichaltrigen.
3.3 Sonntagskinder und deprivierte Kinder
Ausgehend von der Theorie der erlernten Hilflosigkeit unterscheiden Petermann und Petermann zwei Kindtypen: Sonntagskinder und deprivierte Kinder (vgl. Petermann, 2000, S.61-66).
3.3.1 Sonntagskinder
Diese Kinder werden von ihren Eltern sehr verwöhnt und behütet und fallen dadurch auf, dass sie alle sozialen Anforderungen verweigern. Die Unkontrollierbarkeit liegt hier vor allem insofern vor, als die Kinder immer positiv verstärkt werden, gleichgültig, was sie tun.
3.3.2 Deprivierte Kinder
Die Kinder fallen durch hohe Passivität und mangelnde Initiative auf. Unkontrollierbarkeit erfahren sie, weil sie von ihren Eltern vernachlässigt werden und unvorhersehbaren Aversionen ausgesetzt sind.
4. INTERVENTIONSVERFAHREN
In den letzten Jahren hat sich die Kinderpsychotherapie auf dem Gebiet der Behandlung von Ängstlichkeit bei Kindern stark weiterentwickelt. Es liegen verschiedene Therapieansätze sowie Präventionsprogramme vor.
Viele der Interventionsverfahren, unter anderem das im Folgenden vorgestellte, sind verhaltenstherapeutisch orientiert und verknüpfen kognitiv-behaviorale Ansätze mit einer familienorientierten Intervention.
Daneben existieren noch andere erfolgreiche Ansätze, wie z. B. eine Konfrontationstherapie (Expositionsbehandlung), operante Ansätze (systematische Verstärkung des gewünschten Verhaltens des Kindes), Modelllernen und rein kognitive Ansätze (vgl. Petermann/Petermann, 2000, S.67).
Die Präventionsprogramme sollen zum einen Kindern helfen, mit ihren Ängsten besser umgehen zu lernen, zum anderen werden den Eltern der Kinder Erziehungskompetenzen vermittelt, die im Zusammenhang mit einer sozialen Unsicherheit des Kindes relevant sind. Auf diese Weise soll etwaigen schädlichen Einflüssen durch das Umfeld des Kindes so weit wie möglich vorgebeugt werden.
Im Folgenden wird das von Petermann und Petermann entwickelte Training für sozial unsichere Kinder vorgestellt.
4.1 Therapieziele
Ziel der Therapie ist es, das sozial unsichere Verhalten des Kindes nachhaltig positiv zu beeinflussen, d.h., das Kind soll lernen, sich sozial kompetent zu verhalten. Von einem Therapieerfolg wird dann ausgegangen, wenn das problematische Verhalten des Kindes nachhaltig positiv beeinflusst worden ist.
Die Voraussetzungen für sozial kompetentes Verhalten sind: Freisein von sozialer Angst auf der motivationalen Ebene und das Beherrschen bestimmter sozialer Fertigkeiten auf der Handlungsebene.
Für das Freisein von sozialer Angst sind
ein positives Selbstkonzept,
Selbstvertrauen und
Selbstsicherheit Voraussetzung.
Die sozialen Fähigkeiten die beherrscht werden müssen sind:
Wahrnehmungs- und Rollenübernahmefähigkeit,
Interaktionsfähigkeit und
Selbstbehauptungsfähigkeit.
Diese Grundlagen sollen dem Kind in der Therapie vermittelt werden, um so das jeweilige sozial unsichere Verhalten abbauen zu können (ibid., S.68).
4.2 Theoretische Grundlagen des Trainings
Das vorgestellte Training basiert auf der Hilflosigkeitstheorie von Seligman (1995):
Kann eine Situation durch das eigene Handeln nicht beeinflusst werden, wird dem Subjekt das Gefühl der Hilflosigkeit vermittelt. Die wiederholte Erfahrung von Hilflosigkeit führt zu einem Ausbleiben jeglicher Reaktion seitens des Subjekts, weil die Unmöglichkeit Situationen zu beeinflussen erwartet wird. (Siehe auch Kapitel 3.2)
Diese Erwartung soll in der Therapie verändert werden. Dazu muss das Kind neue, für sich bedeutsame Erfahrungen machen, die mit den erwarteten Erfahrungen im Widerspruch stehen. Voraussetzung für neue Erfahrungen ist jedoch ein Handeln von Seiten des Kindes. Da davon auszugehen ist, dass sozial unsichere Kinder von sich aus keine Reaktion zeigen, ist es notwendig, sie zu einer Reaktion zu bringen, bis sich die Erwartungshaltung verändert.
Folgende Schritte sind also im Laufe des Trainings zu erwarten:
1. Zu Beginn der Therapie wird der Therapeut sich ständig bemühen müssen, das Kind zu einer Reaktion zu bewegen
2. Nach und nach wird das aktive Verhalten des Kindes immer leichter erreicht.
3. Schließlich braucht das Kind keinen Anstoß mehr, um zu reagieren. Die Erwartung der Unkontrollierbarkeit wird aufgrund der neuen Erfahrungen abgebaut.
Auf der Grundlage von Seligmans Theorie scheint ein mit Verhaltensübungen arbeitendes Training die sinnvollste Vorgehensweise zu sein (ibid., S.70f).
4.3 Konzeption und Aufbau des Trainings
Das vorgestellte Training basiert auf einer Kombination von Einzel- und Gruppentherapiestunden für das Kind. Parallel dazu werden mit den Eltern, bzw. der gesamten Familie des Kindes, Beratungssitzungen durchgeführt.
Um das Sozialverhalten des Kindes zu beeinflussen, ist das Arbeiten in einem Gruppentraining, in dem Verhalten konkret eingeübt werden kann, unverzichtbar.
Da sozial unsichere Kinder jedoch gerade mit der Interaktion mit anderen Schwierigkeiten haben, würde der sofortige Einstieg in ein Gruppentraining das Kind überfordern. Daher wird dem Gruppentraining ein Einzeltraining vorangestellt.
Mit Hilfe des Einzeltrainings soll außerdem garantiert werden, dass die an dem Gruppentraining teilnehmenden Kinder alle über grundlegende Voraussetzungen auf kognitiver Ebene sowie auf der Ebene der sozialen Fertigkeiten verfügen, um so von dem Gruppentraining ideal profitieren zu können.
Ziel des Einzeltrainings ist es, die Selbstwahrnehmung und die Wahrnehmung anderer auf der Ebene von Mimik, Gestik und Verhalten zu schulen und "angemessene Selbstinstruktionen aufzubauen" (ibid., S. 74).
Bei dem parallel stattfindenden Elterntraining handelt es sich um Gespräche, die wahlweise nur mit den Eltern des Kindes geführt werden oder in die im Bedarfsfall auch die anderen Familienmitglieder mit einbezogen werden können.
Im Rahmen dieser Gespräche werden die Eltern genau über das Störungsbild des Kindes aufgeklärt und ihre Wahrnehmung des Kindes sowie ihre Selbstwahrnehmung im Umgang mit dem Kind sollen geschult werden.
Diese Gespräche sollen der Familie dabei helfen, mit der neuen Situation umzugehen, die sich durch das sich verändernde Verhalten des Kindes ergibt. Zu eventuell auftauchenden Schwierigkeiten können in diesen Sitzungen Problemlösungen erarbeitet werden.
Gleichzeitig sollen die familiären Bedingungen des Kindes im Rahmen des Möglichen so beeinflusst werden, dass sie das veränderte Verhalten des Kindes unterstützen.
Für den Erfolg des Trainings ist es wichtig, dass die im Training erlernten Strategien von dem Kind auch im Alltag erprobt werden. Da der Therapeut in Alltagssituationen nicht anwesend ist, ist hier die Kooperation der Eltern unerlässlich.
Im Rahmen des Gruppentrainings sollen soziale Fertigkeiten im Umgang mit anderen eingeübt werden.
4.4 Beschreibung der Arbeitsweise
4.4.1 Einzeltraining
Der Umfang des Einzeltrainings sollte pro Kind im Schulalter mindestens 4 Sitzungen von je 50 Minuten betragen, für jüngere Kinder im Vorschulalter sind mindestens 6 Sitzungen von je 50 Minuten anzusetzen.
Im Einzeltraining sollen die Selbst- und Fremdwahrnehmung des Kindes geschult werden und es soll Verhaltensalternativen zu sozial unsicherem Verhalten lernen.
Während der Therapiestunden wird viel mit kindgerechten Bildvorlagen gearbeitet. Anhand des Materials werden zum Beispiel Mimik und Gestik besprochen, Selbst- und Fremdwahrnehmung werden geschult.
Mit dem Kind zusammen werden Videofilme bzw. Bilderfolgen angeschaut, in dem ein Kind in einer Problemsituation ist, in der es zuerst sozial unsicher reagiert und das Problem nicht lösen kann. In einer zweiten Version wird die gleiche Situation mit einem anderen Ausgang gezeigt wird, wobei das Kind in dieser Version sozial sicheres Verhalten zeigt. Diese Bilderfolgen soll das Kind zuerst genau beschreiben (z. B. Gestik und Mimik der Kinder), wodurch seine Fremdwahrnehmung geschult wird. Danach wird das Verhalten der Kinder in der Geschichte besprochen, wobei die Züge von sozial sicherem und sozial unsicherem Verhalten herausgearbeitet werden.
Im Laufe der Stunde wird ein Tokenprogramm eingesetzt, um sozial sicheres Verhalten zu trainieren: Eine Regel wird festgelegt und wann immer das Kind sich über einen gewissen Zeitraum hinweg an diese Regel hält, kann es Punkte sammeln, die es dann später gegen Spielminuten am Ende der Therapiesitzung eintauschen kann.
Zur Schulung der Selbstwahrnehmung des Kindes wird ein "Detektivbogen" eingesetzt, in dem Verhaltensweisen eingetragen werden, die das Kind lernen möchte. Das Kind kontrolliert zwischen zwei Therapiesitzungen jeden Abend, inwieweit welches Verhalten an dem entsprechenden Tag mehr oder weniger gut beherrscht wurde.
Zu Beginn jeder Stunde wird eine Entspannungssübung durchgeführt, die der Steigerung der Aufnahmebereitschaft des Kindes dient. (Ibid., S. 81ff.)
4.4.2 Gruppentraining
Das Gruppentraining umfasst für eine Gruppe von drei - vier Kindern mindestens 2 Kennenlernstunden von jeweils 50 Minuten Länge und mindestens 6 Sitzungen von jeweils 90 Minuten.
Während der Gruppentherapie werden die sozial sicheren Verhaltensweisen, die im Einzeltraining hauptsächlich theoretisch herausgearbeitet wurden, praktisch eingeübt.
Die beiden Kennenlernstunden können von den Kindern weitgehend frei spielerisch gestaltet werden, abgesehen von den "Detektivbögen", die weiterhin am Anfang jeder Stunde besprochen werden.
Die Elemente des Einzeltrainings sind alle auch beim Gruppentraining wiederzufinden. Beim Gruppentraining wird jedoch darüber hinaus viel mit Rollenspielen gearbeitet: Eine Situation wird jeweils beschrieben und mit Bildern verdeutlicht, woraufhin die Kinder die Situation dann selbst spielen. Das Spiel wird daraufhin von allen gemeinsam reflektiert. Im Folgenden werden dann die gemeinsam herausgearbeiteten Punkte in einem zweiten Rollenspiel zu der gleichen Geschichte verarbeitet. (Ibid., S.173ff.)
4.4.3 Elternberatung
Der Umfang der Elternberatung beträgt mindestens vier Sitzungen von je 100 Minuten Länge, die parallel zum Einzeltraining mit dem Kind stattfinden. Darüber hinaus findet etwa zwei Monate nach Beendigung des Trainings des Kindes ein Nachgespräch mit den Eltern statt.
Im Laufe der Gespräche mit den Eltern sollen deren Selbstwahrnehmung in Bezug auf die Interaktion mit dem Kind und ihre Wahrnehmung des Kindes geschult werden. Außerdem sollen Erziehungsmaßnahmen, die das sozial unsichere Verhalten des Kindes eventuell aufrechterhalten, aufgespürt und wenn möglich positiv beeinflusst werden.
Sollten im Laufe des Trainings neue Verhaltensweisen des Kindes auftreten, die in der Familie zu Problemen führen. so besteht im Rahmen der Elterngespräche auch die Möglichkeit, gemeinsam Problemlösungen zu erarbeiten.
Die Einbeziehung der Eltern in die Therapie des sozial unsicheren Verhaltens des Kindes ermöglicht es, nachhaltigere Trainingserfolge zu erzielen.
Für die Elternberatung sind verschiedene Informationsmaterialien vorgesehen, wie zum Beispiel ein Informationsbogen über die Entstehung von Verhalten. Anhand dessen, kombiniert mit einer ausführlichen Erläuterung der Diagnose des Kindes, sollen den Eltern auch ausführliche Kenntnisse bezüglich der Problematik ihres Kindes vermittelt werden.
Die Gespräche mit den Eltern liefern außerdem zusätzliche Informationen über das Verhalten des Kindes im Alltag. Im Laufe der Beratungsgespräche werden, mit zunehmender Schulung, die Beobachtungen der Eltern präziser und verlässlicher.
Zusätzliche von den Eltern eingebrachte qualitative Informationen können helfen, bei der Auswertung der Daten in etwa abzuschätzen, welche Entwicklungen des Kindes eventuell nicht auf das Training, sondern auf andere Faktoren zurückzuführen sind (wie z.B. die Aufnahme einer neuen Freizeitaktivität oder intensivere soziale Kontakte).(Ibid., S.215ff.)
4.4.4 Durchführung des Trainings
Das Training hat eine sehr strenge Strukturierung, die für jede einzelne Stunde genaue Lernziele definiert und die Vorgehensweise festlegt.
Dies darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Training flexibel bleiben muss, um die optimale Abstimmung auf jedes einzelne Kind zu erlauben.
Ein sehr wichtiger und bisher noch nicht angesprochener Punkt ist die Beziehung zwischen Therapeut und Kind, bzw. auch Therapeut und Eltern. Ein gutes Vertrauensverhältnis ist die Voraussetzung für das Gelingen der Therapie, also muss auch der Aufbau des Vertrauensverhältnisses einen zentralen Platz in der Arbeit einnehmen.
Da das Training in dem Buch von Petermann und Petermann sehr ausführlich geschildert wird und sämtliche benötigten Materialen als Kopiervorlagen in dem Buch enthalten oder zu bestellen sind, ist davon auszugehen, dass keine andere Form der Schulung als anhand des besprochenen Buchs vorgesehen ist.
4.5 Überprüfung der Wirksamkeit/Verlaufskontrolle
Die Wirksamkeit des hier vorgestellten Trainings wurde in unterschiedlichen Studien überprüft.
In den einzelnen Studien wurden jeweils einzelne Aspekte der Wirksamkeit beleuchtet (etwa Langzeiteffekte oder Reaktion von jüngeren Kindern auf das Training).
Es zeigte sich, dass das Training sowohl kurz- als auch langfristige Effekte bei sämtlichen in den Untersuchungen berücksichtigten Kindern hatte. Mit dem Einzeltraining werden kurzfristige Effekte erzielt, die durch die Beratungsgespräche mit den Eltern gestützt werden. Das Gruppentraining stabilisiert die Effekte ebenfalls und ermöglicht es den Kindern, die erlernten Verhaltensveränderungen auf den Alltag zu übertragen.
Während die Effekte weitgehend unabhängig von der Person des Therapeuten und dem Setting sind, sind sie von der Teilnahme der Eltern und den individuellen Voraussetzungen der Kinder abhängig: Ein Zögern der Eltern zu Beginn verzögert auch das Einsetzen von Therapieerfolgen; bei jüngeren Kindern und lernbehinderten Kindern stellen sich Trainingserfolge langsamer ein, jedoch im gleichen Ausmaß wie bei älteren Kindern (ibid., S.245ff).
5. SCHLUSSBETRACHTUNG
In den letzten Jahren haben sich Psychologie und Psychiatrie stärker als je zuvor der klinischen Kinderpsychologie und -psychotherapie zugewandt. Eine Fülle von neuen Kategorien unterschiedlichster Verhaltensauffälligkeiten wurden gebildet.
Parallel zu diesen neuen Kategorien wurden auch neue Therapiemethoden entwickelt, die den Anspruch haben, durch die genaue Abgrenzung der Verhaltensauffälligkeit optimal auf die Problematik des betroffenen Kindes zugeschnitten zu sein.
Die immer genauere Klassifizierung erlaubt es außerdem, Verhaltensauffälligkeiten immer früher zu erkennen und quasi schon "im Keim zu ersticken". (Je früher ein problematisches Verhalten erkannt und therapiert wird, desto einfacher und weniger aufwendig ist die Therapie in der Regel. Außerdem verhindert ein frühes Eingreifen, dass das Kind zusätzliche Schädigungen bekommt, z. B. in seiner kognitiven Entwicklung behindert wird, aufgrund in der Schule auftretender Verhaltensauffälligkeiten.)
Trotz der positiven Seiten dieser Entwicklung sollte man nicht vergessen, den Blick auch auf die möglichen nachteiligen Folgen einer solchen Entwicklung zu lenken.
Was bedeutet es für ein Kind, wenn es bereits im Grundschulalter oder sogar noch früher eine Therapie macht?
Besteht die Möglichkeit, dass Lehrer Kinder, die den Unterricht stören, vorschnell pathologisieren und somit das Verhalten des "abgestempelten" Kindes nachhaltig negativ beeinflussen?
Was ist davon zu halten, wenn die Verhaltensauffälligkeiten des Kindes Probleme innerhalb der Familie zu kompensieren versuchen und eine problematische Familiensituation "am Kind therapiert" wird?
All diese Vorbehalte sollen jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die nähere Beschäftigung mit Verhaltensauffälligkeiten von Kindern ein sehr wichtiges Gebiet ist und dass die tatsächlich betroffenen Kinder sicherlich einen großen Gewinn aus der Fülle an neuen Erkenntnissen ziehen.
6. ANHANG
6.1. Fallbeispiel aus dem Bereich „Sozial unsichere Kinder" der Caritas Beratungsstelle für Eltern, Kinder und Jugendliche Limburg e.V.
Fallbeschreibung:
Frau B. kam mit ihrem 12-jähirgen Sohn Rocky, der in der Schule wegen aggressivem Verhalten auffällig geworden ist, in die offene Sprechstunde der Caritas Beratungsstelle.
Im Unterricht falle es Rocky schwer, sich zu konzentrieren.
In der Pause gebe es immer Dinge zu klären, und er sei bei jeder Schlägerei dabei.
Vor den Ferien sei es ihm dann sogar passiert, dass er ein Messer gezogen hat und auf einen Mitschüler losgegangen ist, jedoch ohne ihn zu verletzen. Dieser Mitschüler hat seinen Freund angegriffen und Rocky habe ihn auf diese Art und Weise verteidigen wollen.
Rocky sieht sich als Retter und Held.
Von Seiten der Schule hat er daraufhin einen Verweis in die Akte bekommen.
Der Rektor der Schule hatte ein langes Gespräch mit der Mutter. Er hat darauf hingewiesen, dass nun dringend etwas passieren muss. Das letzte Geschehen war dann, dass er einen Mitschüler ins Kreuz gesprungen ist.
Rocky ist auch wiederholte Male durch kleinere Diebstähle im MiniMal in seinem Heimatort aufgefallen. Er habe einfach mal ausprobieren wollen, wie das so ist, sei aber dabei erwischt worden.
Therapeutische Maßnahmen:
-Einzelgespräche mit Rocky inklusive Rollenspiele
-Familiengespräche inklusive Rollenspiele
Ziel der therapeutischen Intervention:
Rocky soll eine realistische Selbstwahrnehmung erhalten, ebenso die Mutter von ihrem Sohn.
Zur Familiensituation
Die Eltern sind geschieden.
Der Vater betrieb ein Fitnessstudio als er noch in der Familie lebte. An die Verabredungen mit seinem Sohn hält sich der Vater nicht, was Rocky als enttäuschend empfindet;
die Mutter macht sich darüber keine Gedanken. Als das Fitnessstudio noch betrieben wurde, hat der Vater seinem Sohn sehr gefordert und benutzt.
Die Sicht der Mutter
Das ganze Familienleben hat sich im Fitnessstudio abgespielt, dort wären sie eine „große" Familie gewesen. Rocky war schon als Baby immer mit dabei, denn er war etwas Besonderes und musste immer körperlich fit sein. Er sei ein sehr nervöses und unruhiges Kleinkind gewesen; zur Beruhigung hat sie ihn immer mit dem Auto hin- und hergefahren. Ihre Mutter-Sohn-Beziehung sei sehr eng, er hätte es als „einziger Mann" im Haus ja auch schwer.
Sie findet ihren Sohn toll, sei ganz „verliebt" in ihn. Rocky wäre nicht so angepasst wie andere Kinder und hätte einen tollen Gerechtigkeitssinn – er sei einfach ein Held.
Alle anderen, besonders der Rektor, würden nie das positive, sondern immer nur das negative an ihrem Sohn sehen.
Das Verhältnis zu Rocky sei sehr offen, dennoch bestrafe sie verschiedene Vergehen durch Hausarrest.
Sie interpretierte Rockys Verhalten so, dass er um jeden Preis im Mittelpunkt stehen wolle.
Die Situation aus der Sicht der Lehrerin
Die Lehrerin ist sehr angespannt, denn sie hat die Klasse, die sehr schwierig sei, neu übernommen.
Bei Rocky sei ihr gleich zu Anfang aufgefallen, dass er sie nicht habe ansehen können:
die Augen seien nervös hin- und hergegangen – es sei kein direkter Kontakt möglich gewesen.
Während des Unterrichts sei Rocky nicht in der Lage sich 5 Minuten auf eine Aufgabe zu konzentrieren – wenn er gefragt werde, könne er nicht normal antworten. Rocky sei ständig in nervöser Bewegung. Mit dem Erledigen der Hausaufgaben sei er sehr unzuverlässig – die Heftführung ist schlampig. Beim Lesen ist eine ganze Seite eines schier unüberwindliche Hürde für den Jungen.
Sie hat Rocky vorgeschlagen, sich einen „Bodyguard" zu nehmen, der ihn in den Pausen beschützen soll, damit er nicht in Versuchung kommt sich zu schlagen.
Die Situation mit Rocky belaste sie, sie wisse nicht mehr weiter. Manchmal habe sie den Eindruck, dass ihre Worte ihn gar nicht erreichen – als würde er nicht wahrnehmen, was sie ihm sagen will.
Rockys Sichtweise über sich selbst
Er habe viele Freunde unter den Mitschülern und könne mit ihnen über seine Probleme reden.
Die Lehrerin sei auch sehr aufgeschlossen.
In der Pause bliebe er meist im Klassenraum und höre Walkman oder er helfe der Lehrerin.
Mit den Hausaufgaben, das klappe nicht immer so – er vergisst häufiger was er aufhat, der Mutter gegenüber ist er dann nicht ehrlich und schwindelt sie an, denn er möchte sie nicht enttäuschen.
Die Schlägereien verursachen immer die Älteren, die ihn ärgern. Er hat dann Angst und wenn er weitergehen will, nennen sie ihn feige und dann schlägt er zu.
Die Analyse des Therapeuten
Rocky kennt die Erwachsenenwelt hauptsächlich durch das Fitnessstudio; er kennt sich selber kaum als nur durch diesen körperlichen Austausch.
Grund für sein Verhalten:
Rocky hat kein Gespür für die Unterrichtssituation – er spürt sich nur im direkten „Losaggieren". Es muss Möglichkeiten für ihn geben, sich in den Pausen oder während des Unterrichts, wenn er merkt, er hält es nicht mehr aus, auszuagieren.
Rocky braucht schnelle Erfolge, die Lehrerin soll ihm nur kurze Aufgaben stellen, so dass er zwischendurch immer wieder mit ihr Kontakt aufnehmen kann.
Die Mutter könnte mit ihm ein Lesetraining durchführen, wo sie und ihr Sohn abwechselnd immer nur einen Satz lesen.
Rocky soll seine Angst als „Schutzengel" benutzen. Wenn er die Angst spürt, heißt das, es ist gefährlich für ihn – er soll die Situation beenden und weggehen. Rocky muss seine Angst Ernst nehmen, denn sie ist wichtig für ihn als Schutz.
Rocky ist ein unsicheres Kind; während den Gesprächen schrumpft er in seinem Sessel und sucht ständig Kontakt zu seiner Mutter – er kann sich schlecht von ihr lösen.
Auch hat er kein realistisches Selbstbild.
Rockys Verhalten im Klassenverband erwähnten weder er noch die Mutter. Beide nehmen nur Ausschnitte aus der Realität wahr – nur das „ungerechte" Verhalten der anderen. Mutter und Sohn müssen versuchen zu entklammern. Die Mutter muss loslassen können. Die Realität bringt Veränderungen mit sich – auch eine größere Verantwortlichkeit Rockys sich selbst gegenüber. Er muss lernen mehr selbstständig zu arbeiten und die Mutter muss lernen, sich immer mehr rauszuziehen.
Rocky soll nicht verändert werden, sondern mehr Autonomie in seinem Verhalten erlangen – denn die Schule ist nun mal kein Fitness-Center.
Rocky befindet sich derzeit noch in Therapie. Weitere Ergebnisse und Erfolge müssen sich noch herausstellen.
Unser besonderer Dank gilt dem Leiter der Caritas Beratungsstelle für Eltern, Kinder und Jugendliche, dem Dipl. Psych. Reiner Apffelstaedt
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